Gesundheits- und Krankheitsmodell Manuelle Medizin 2006 · 44:121–124 DOI 10.1007/s00337-006-0420-x Online publiziert: 3. Mai 2006 © Springer Medizin Verlag 2006
C.-H. Siemsen Arbeitsgebiet Biomechanik, Fakultät „Life Sciences“, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Hamburg
Tensegrity Theoretisches Gesundheitsund Krankheitsmodell
In den 60er-Jahren wurde die Kybernetik begründet, d. h. es wurden technische Mess- und Regelvorgänge auf menschliche Steuer- und Ablaufvorgänge des Gehirns übertragen und angewendet (GateControl-Theorie). Bei Tensegrity handelt es sich ebenfalls um ein in der Technik entwickeltes Konstruktionssystem an Bauwerken und Kuppeln, das durch die Entdeckung neuer Zellorganellen auf den Menschen und seine Organsysteme angewendet werden kann. Tensegrity ist definiert als Spannung in ganzheitlicher Betrachtung. Das technische Grundmodell besteht aus drei Stäben (feste Elemente) und neun horizontal und vertikal verspannten elastischen Elementen (Seile). Diese stehen miteinander in einem statisch dynamischen Gleichgewicht (. Abb. 1). Durch die Entdeckung neuer Zellstrukturen durch den Molekularbiologen D. Ingber ist es möglich geworden, die Zellstruktur neu zu definieren. Das Innenskelett einer Zelle besteht aus drei miteinander verbundenen Komponenten, die von der äußeren Zellmembran bis zum Zellkern rei-
Abb. 1 8 Technisches Grundmodell
chen und die verschiedenen Strukturen miteinander mechanisch verbinden. Diese sind als neue Struktureinheiten Aktinfilamente, Mikrotubuli und intermediäre Filamente. Sie kommen den im technischen Modell dargestellten Balken und elastischen Seilen in ihrer Funktion gleich. Als viertes neues Strukturelement wurden neue Integrine entdeckt. Diese entsprechen den bekannten Mechanorezeptoren. Die Integrine sind integrierter Bestandteil der Zelloberfläche (Zellmembran). Sie registrieren Kompression und Spannung innerhalb der Zellmembran und geben diese Information an den Zellkern und an alle umgebenen Begleitgewebe weiter. Weiterhin haben sie Verbindung zu allen im Körper vorhandenen großen Zellsystemen. Das Bindegewebe ist eine Mittlersubstanz zwischen Haut, Knochen, Blutgefäßen, Nerven und Muskulatur. Analysiert man die mikroskopische Feinstruktur von Atomen und Molekülen, so fällt hierbei auf, dass ein Wassertropfen – dargestellt in der Größenordnung im Nanobereich – starre und elastische Strukturelemente zwi-
schen den Atomen enthält. Ähnlich aufgebaut sind auch Algen, Viren, Eiweiße, Pollen bis zur Körperzelle. In der Größenordnung beginnend mit den Atomen, Durchmesser (1×10– 10 μm), bis zur Körperzelle, Durchmesser (2,5–5×10–4 μm), sind alle oben genannten Substanzen nach dem Prinzip von Tensegrity aufgebaut. Bei der Betrachtung von Makrostrukturen, von einer technischen Hallenkonstruktion bis hin zur Baumwurzel, lassen sich diese genannten Strukturen und Elemente wiederfinden (. Abb. 2). Tensegrity-Strukturen zeichnen sich durch eine hohe Stabilität aus. Der Erfinder des technischen Tensegrity, R.B. Fuller, konstruierte z. B. den amerikanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967 nach diesem technischen Prinzip. Die Kuppel hatte einen Durchmesser von immerhin 80 m und war in sich statisch völlig stabil. Vergleicht man das Ganze mit einem Naturbeispiel, so lassen sich durch Tensegrity die statischen und dynamischen Beanspruchungen und hohen Festigkeiten des Giraffenhalses erklären. Dieses war bislang mit den bekannten Strukturelementen nicht möglich. Die biomechanischen Funktionen von Zellen, erklärt nach den Tensegrity-Modellen, stellen sich folgendermaßen dar: 1. Es besteht eine hohe Selbststabilisierung der statischen und elastischen Elemente; diese sind miteinander im Gleichgewicht. 2. Mechanische Konstruktionsprinzipien entsprechen biologischen Systemen. Manuelle Medizin 2 · 2006
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Abb. 3 8 Modellberechnung am technischen Grundmodell (. Abb. 1)
Abb. 2 8 Makrostrukturen, technisches Modell, biologisches Modell (Fachwerkstrukturen)
Abb. 4 8 Gesundheit
Abb. 5 8 Modell Krankheit
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Zusammenfassung · Abstract 3. Feste Stäbe nehmen Druck auf. 4. Elastische Verbindungen nehmen Zug auf. Druck und Zug werden im Modell gleichmäßig verteilt. Es besteht ein Fließgleichgewicht zwischen allen Zellkompartimenten (Ausgleich). Das Gesamtmodell zeichnet sich durch eine hohe Stabilität bei Krafteinwirkung aus. Folgende Tensegrity-Eigenschaften liegen vor. 1. Es besteht das Konstruktionsprinzip selbsttragender Körper. Es gibt keine innere Abstützung. 2. Die Modelle bestehen aus Stangen (Knochen) und Seilzügen (Faszien und Muskeln). 3. Das selbststabilisierende System ergibt sich durch Spannungs- und Druckverteilung in der Gesamtkonstruktion.
Biomechanische Wirkungsweise von Zellsystemen Bei der Deformierung einer Zelle verschieben sich die benachbarten Zellen in gleicher Weise. Die Modellberechnungen in den Knotenpunkten des technischen Ersatzmodells ergeben im Spannungs/Dehnungsverlauf ein gleiches Kurvenverhalten, sie folgen am Ende ihrer Bewegungsmöglichkeiten einer E-Funktion bis zu einem späteren gleichmäßigen Maximum (Endpunkt; . Abb. 3). Eine hohe Stabilität besteht bei Winkelgraden von 30° in diesen Systemen. Verformt man das technische Ersatzmodell an einem gegenüberliegenden Punkt bei einer festen Einspannung, so kann gezeigt werden, dass sich Stangen und elastische Federelemente in gleicher Weise gleichmäßig bis zu einem Maximum verformen. Wendet man das Tensegrity-Modell in der Humanbiologie an, so kann Folgendes definiert werden: 1. Die Strukturteile sind 206 Knochen des Körpers. 2. Sie werden von Muskeln, Sehnen und Faszien im Gleichgewicht gehalten. 3. Die Stabilisierung durch Tensegrity erfolgt in den Zellen der Proteine und aller anderen Moleküle bis zur Makrostruktur. 4. Die Spannungszunahme in einem Punkt wirkt sich auf alle Strukturteile aus.
Tensegrity und Auswirkung auf Manualtherapie Welche wichtigen Erkenntnisse und Aussagen können nun für die Manualtherapie getroffen werden? 1. Die Form beherrscht die Funktion. 2. Die Form wird beherrscht von bewegten Strukturen. 3. Die Struktur ist für die Funktion verantwortlich. 4. Die somatische Dysfunktion beeinflusst die Bewegung des ganzen Körpers auch auf der zellulären Ebene. Welche weiteren wichtigen neuen Erkenntnisse können durch Tensegrity getroffen werden? 1. Spannungs- und Kompressionskräfte, zusammen genutzt, machen höhere Lastverteilungen möglich, als durch traditionelle Strukturanalyse angenommen werden kann. Hierdurch entsteht ein so genannter Synergieeffekt (ein diskretes und komplexes Paradoxon). Als praktische Anwendungsbeispiele können hier das HWS-Distorsionstrauma und die LWS-Belastung bei Gewichthebern angeführt werden. 2. Die an der Wirbelsäule auftretenden Funktionsstörungen (segmentale Dysfunktion der Wirbelsäule) lassen sich messtechnisch darstellen. Bei der Vor- und Nachbehandlung mit manualtherapeutischen Techniken sind Unterschiede messbar, die mit dem Schmerzphänomen der Patienten korrelieren. Änderungen von Form und Funktion lassen sich dadurch nachweisen.
Fazit für die Praxis Am Beispiel des einfachen technischen Ersatzmodells lassen sich die beiden Phänomene Gesundheit und Krankheit mit Tensegrity erklären. Verformt man das einfache Modell durch eine vertikale Kraft, so ist das Modell so lange rückstellbar und rückstellfähig, bis sich die Strukturelemente der Balken und der Seile berühren (. Abb. 4). Dieser elastische Rückstellbereich ist vergleichbar mit den Selbstheilungskräften unserer Gewebe. Wird das Modell allerdings so stark de-
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Tensegrity. Theoretisches Gesundheits- und Krankheitsmodell Zusammenfassung Vorgestellt wird ein neues theoretisches Grundlagenmodell, das Tensegrity-Modell, welches das therapeutische Handeln von manualtherapeutisch tätigen Ärzten besser als bisher erklären kann. Was passiert bei unserer Therapie in den Grundstrukturen der von uns behandelten Gewebe? Gesundheit und Krankheit können über biomechanische Wirkungsweisen des Tensegrity-Modells neu erklärt werden. Faszinierend neu ist dabei die Verknüpfung von Biologie, Medizin und Technik nach den Gesetzen der Natur. Besondere Bedeutung kommt der Tensegrity-Theorie bei der manuellen Therapie und der Osteopathie, aber auch bei anderen Therapieformen, z. B. der Reflextherapie (Injektionsbehandlung), zu. Weitere Forschungen und Berechnungen an diesen Modellen sind nötig, um weitere Erkenntnisse für unser Handeln als Manualtherapeuten zu gewinnen. Schlüsselwörter Tensegrity · Biomechanische Wirkungsweise von neuen Zellsystemen · Grundlagenerkenntnisse Gesundheit/Krankheit
Tensegrity. Theoretical model of health and illness Abstract A new theoretical basic model called the tensegrity model is presented. It gives a better explanation of the mode of action in manual therapy in comparison to other theories. What happens to the basic cellular structures when manual therapy is done? Health and illness can be explained by biomechanical aspects of the tensegrity model. The linkage of biology, medicine and technology, following the laws of nature, is fascinatingly new. The tensegrity theory has a special meaning in manual therapy, osteopathy and, in addition, in other conservative therapies, for example reflex therapy (injection treatment). Further research and computations of these models are necessary to gain further insight into our work as manual therapists. Keywords Tensegrity · Biomechanical mode of action of new cellular structures · Basic knowledge of health and disease
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Fachnachricht formiert, dass eine Rückstellmöglichkeit nicht mehr vorhanden ist, so sprechen wir von Krankheit (. Abb. 5). Auf die Manualtherapie angewandt bedeutet dieses: Durch den Einsatz unserer Hände können wir dieses erschöpfte Modell in den so genannten elastischen Bereich zurückführen. Die Dysfunktion eines Gelenkes wird wieder beseitigt. Der Hintergrund unseres Handelns als Manualtherapeuten wird damit erklärbar: Beseitigen einer gestörten Funktion und Überführen in eine Normalfunktion. Als eindrucksvolles Beispiel lässt sich das HWS-Distorsionstrauma anführen, das sich häufig über einen längeren Zeitraum als sehr therapieresistent gestaltet. Dieses Phänomen ist durch Tensegrity so erklärbar, dass die HWS-Gelenkstellung sich bereits in der Endphase des elastischen Bereichs befindet (z. B. Computerarbeitsplätze). Durch ein zusätzliches Trauma der Halswirbelsäule kommt das Gelenk in eine „blockierte“ Endstellung. Es verlässt den letzten physiologischen Bereich, befindet sich in einer Endstellung und ist therapieresistent, weil alle begleitenden Zellsysteme sich langfristig schon in einer physiologisch veränderten Bewegungsfunktion befinden. Die Beseitigung dieser Dysfunktion ist dann bei Einsatz verschiedener Therapiemethoden, z. B. unserer Manualtherapie, deshalb häufig langfristig zu sehen. Dies könnte die z. T. sehr langen Behandlungszeiten erklären.
Literatur Literatur beim Verfasser.
Korrespondierender Autor Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. BMT C.-H. Siemsen Arbeitsgebiet Biomechanik, Fakultät „Life Sciences“, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Lohbrügger Kirchstraße 65, 21033 Hamburg
[email protected] Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation des Themas ist unabhängig und die Darstellung der Inhalte produktneutral.
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