Z Politikberat (2010) 3:267–276 DOI 10.1007/s12392-010-0248-6 Forum
Wie neue Medien Wahlkämpfe und Entscheidungsprozesse in den USA verändern Ein Ortsbesuch in Washington D.C. im Jahr 1 der Obama-Administration Henrik Flor
Zusammenfassung: Nach dem medialen Hype um den Online-Wahlkampf Barack Obamas stellt sich die Frage, welche Elemente der Kampagne über den Wahlkampf hinaus wirken und inwieweit die internetbasierte Mobilisierung einer hohen Zahl von Unterstützern auch während der Präsidentschaft fortgeführt werden kann. Wie gelingt die Neuausrichtung der digitalen Kommunikation vom Gewinnen der Wahlen zur Realisierung der politischen Agenda? Welche konkreten Tools sind hierbei tragfähig? Im Rahmen einer Expertenbefragung geben Politikberater, Wissenschaftler, Lobbyisten, Blogger und NGO-Aktivisten aus Washington D.C. eine Einschätzung, welche Faktoren eine politische Online-Kampagne zum Erfolg führen. Schlüsselwörter: Obama · Online-Wahlkampf · Digitale Kommunikation · Blogging · USA
The new media’s effects on campaigning and decision making—An on-site visit in Washington D.C. one year into the Obama administration Abstract: Following the media hype surrounding Barack Obama’s online campaign, certain questions arise. Which elements of the campaign will have an impact beyond the election? To what extent will the Internet-based mobilization of a high number of supporters continue during his presidency? How can the focus of digital communication shift from winning elections to implementing the political agenda? Which specific tools are most sustainable? In an expert survey, political advisers, scientists, lobbyists, bloggers and NGO activists from Washington D.C. assess what factors make a political online campaign successful. Keywords: Obama · Online-election · Campaign · Digital communication · Blogging · USA
Online publiziert: 14.09.2010 © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010 Die Anna-Maria and Stephen Kellen Foundation sowie der American Council on Germany unterstützten eine mehrwöchige Recherchereise des Autors nach New York und Washington D.C. im Mai/Juni 2009. Den Stipendiengebern sei auf diesem Wege nochmals gedankt. Dipl.-Pol. H. Flor () Arndtstr. 19, 10965 Berlin, Deutschland E-Mail:
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Kernaussagen: Die Online-Kampagne Obamas war nicht repräsentativ für heutige Wahlkämpfe in den USA. Es lässt sich jedoch feststellen, dass zum Erfolgsrezept die effektive Verknüpfung von Online- und Offline-Aktivitäten gehört, wobei erfolgreiche Online-Kommunikation nach dem Bottom-up-Prinzip funktioniert. Eine große Online-Kampagne benötigt stets auch eine große Botschaft. Die Mobilisierung der Unterstützer erfolgt auch nach der Wahl online über die Plattform Organizing for America. Dabei hat sich bereits im Wahlkampf gezeigt, dass soziale Netzwerke kaum eine Rolle bei der Mobilisierung von Unterstützern spielen. Die wichtigsten Online-Tools sind nach wie vor E-Mail und Suchfunktionen, auch das Format des Web-Clips wird immer wichtiger. Das Internet eröffnet neue Möglichkeiten, Transparenz in politischen Prozessen zu erreichen, wobei Blogger eine wichtige Rolle als digitale Avantgarde spielen und mehr und mehr in den Mainstream-Journalismus hinein diffundieren.
1 Einleitung Kaum eine Wahl der jüngeren Vergangenheit hat in den USA selbst, aber auch über die Landesgrenzen hinaus, ein solches Interesse und eine solche Leidenschaft ausgelöst wie der Kampf um die 44. US-Präsidentschaft. Die Obama-Kampagne setzte gleich in mehrfacher Hinsicht Maßstäbe: hinsichtlich der umfangreichen Mobilisierung von Unterstützern, dem Spendenaufkommen von 778 Mio. US $ (Federal Election Commission 2010) und nicht zuletzt dem innovativen Einsatz neuer Medien. Nachdem Mitte 2009 der mediale Hype um den Online-Wahlkampf der Demokraten nachließ, stellt sich die Frage, welche neuen im Wahlkampf erprobten Formen der politischen Kommunikation sich dauerhaft in Kampagnen und der Tagespolitik etablieren werden. Kann die demokratische Partei mit Hilfe internetbasierter Community-Management-Werkzeuge und Best-practise-Frontends ein hohes Mobilisierungsniveau halten und dies für wichtige innenpolitische Projekte wie die Gesundheitsreform nutzen? Welche Rolle werden soziale Netzwerke spielen, welche die E-Mail-Kommunikation, welche Bedeutung haben in Zukunft Internet-Clips und welche das Online-Fundraising? Politikberater, Lobbyisten, Wissenschaftler, Blogger und NGO-Aktivisten aus Washington D.C. geben hier ihre Einschätzung. Die Ausführungen der Fachleute ganz unterschiedlicher Provenienz erweisen sich – jenseits der US-amerikanischen politischen Praxis – auch für die bundesdeutsche politische Kommunikation als fruchtbar: Unabhängig von den unterschiedlichen rechtlichen, systemischen, kulturellen und technischen Voraussetzungen, formulieren die Experten konkrete Empfehlungen für die konsequente Nutzung eines breiten Arsenals neuer Medien in der politischen Arena. 2 Wenn sich die „line of attack“ ändert: Aus MyBarackObama.com wird Organizing for America Die Webseite MyBarackObama.com war das Kernstück des Online-Wahlkampfes des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers. 14 Mio. Unterstützer haben sich hier regist-
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rieren lassen, rd. ½ Mrd. US$ Spenden wurden online generiert, 200.000 Offline-Events organisiert und 35.000 Unterstützergruppen formiert (vgl. Vargas 2008). Die Plattform präsentierte den state of the art in Sachen Webdesign: Die Benutzerführung war geschmeidig, aufwändige multimediale Inhalte waren wie selbstverständlich eingebettet, die Aufforderungen zu spenden folgten den neuesten Erkenntnissen des CustomerRelationship-Managements und Schaltflächen verlinkten zu nicht weniger als 15 sozialen Netzwerken und social bookmarks. Im geschützten Mitgliederbereich bot die Software Partybuilder neue Möglichkeiten, Millionen von Unterstützern zu koordinieren. Diese konnten sich auf lokaler Ebene vernetzen, Informationsmaterial abrufen oder Telefonlisten exportieren, um unentschlossene Wähler anzurufen. Thomas Gensemer ist Managing Partner von Blue State Digital, dem Unternehmen, das für die Kampagnen-Websites und auch für die Software Partybuilder verantwortlich zeichnet. Die Aufgabe war klar definiert: In den 21 Monaten bis zur Wahl sollten die Botschaft und die charismatische Figur Obamas in eine digitale Kampagne übersetzt werden, die 20 % der demokratischen Unterstützer direkt mobilisiert. Die Gründe für den überwältigenden Erfolg der Online-Kampagne fasst er in 6 Thesen zusammen: 1. Das wichtigste Instrument bleibt die E-Mail. Mailen Sie nur, wenn Sie auch etwas zu sagen haben! 2. Niedrigschwellige Angebote für potenzielle Unterstützer. Eine E-Mail-Adresse hinterlassen, muss im ersten Schritt genügen. 3. Auch wenn gerade kein Wahlkampf ist, müssen Unterstützer informiert und umworben werden. 4. Dialog: Frage deine Unterstützer, was sie von den Positionen der Partei/des Kandidaten halten. 5. Videos entwickeln sich zum attraktivsten Webformat auch in der politischen Kommunikation. 6. Überlege, wie Unterstützer weitere Unterstützer mobilisieren können. Inzwischen wurde die Verantwortung für die offizielle Internet-Kommunikation des Präsidenten an einen eigenen Online-Stab im Weißen Haus abgegeben, und aus „My Barack Obama“ ist „Organizing for America“ geworden. Ein Kampagnenportal, das ebenfalls von Blue State Digital betreut wird. Ziel der Plattform ist es, das hohe Mobilisierungspotenzial der Unterstützer aufrechtzuerhalten. Ein in den USA neuer Gedanke, kennt man hier jenseits der Wahlkämpfe doch keine klassische Parteiarbeit wie etwa in Deutschland. Als Deputy Director ist Jeremy Bird für die zentrale Unterstützer-Plattform www. OrganizingforAmerica.com mit verantwortlich. Bird machte sich zunächst während der Primaries 2008 einen Namen und konnte später als General Election Director den wichtigen Sieg in Ohio für Obama nach Hause bringen. Er unterstreicht den Dialog-Charakter der Kampagne und auch der heutigen Parteiarbeit. So wurde direkt nach der Wahl eine breit angelegte listening tour durch alle Staaten veranstaltet, in welcher der Wahlkampf evaluiert und Unterstützer dazu befragt wurden, welche inhaltlichen Akzente sie von der Präsidentschaft erwarteten. Mit Organizing for America vollziehen die Demokraten eine wichtige strategische Neuorientierung: Es gehe nun nicht mehr um die Präsidentenkür und die Finanzierung des Wahlkampfes. Aktuelles Kommunikationsziel sei das Unterstützen der Agenda des Präsidenten sowie das Festigen des eigenen Netzwerkes, so Bird.
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Die Gesundheitsreform war hierfür so etwas wie der Lackmustest. Um das Schwerpunktprojekt online zu unterstützen, wurden Online-Unterschriftenlisten programmiert, vorformulierte E-Mails an Abgeordnete und Journalisten verfasst, online Spenden gesammelt, Anhänger per E-Mail, Video- und Audiobotschaften auf dem Laufenden gehalten und aufgefordert, auf lokaler Ebene Veranstaltungen zu organisieren und in Erscheinung zu treten. Nach Angaben von Thomas Gensemer ging – ohne genaue Zahlen nennen zu dürfen – die Strategie auf. Viele Unterstützer konnten an die Partei und deren Agenda gebunden werden, und auch das Spendenaufkommen sei weit höher gewesen als erwartet. Die Infrastruktur zur Mobilisierung der Anhänger konnte offenbar zu einem bestimmten Grad vom Wahlkampf in den politischen Alltag überführt werden. Als besondere Herausforderung für die Zukunft formuliert Gensemer das erfolgreiche Andocken an neue Technologien und Businessmodelle wie Facebook. 3 Nicht jeder Wahlkampf ist ein Obama-Wahlkampf Bei aller Euphorie, die der Internet-Wahlkampf Barack Obamas ausgelöst hat: Inzwischen haben Wissenschaftler wie Rasmus Kleis Nielsen von der Columbia University in New York untersucht, welchen Stellenwert Online-Kampagnen und einzelne Tools in einer durchschnittlichen US-Wahl z. B. zum Senat haben. Dabei kommt Nielsen zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Obama-Kampagne sei mit ihrem hohen Innovationsgrad und der großen Akzeptanz nicht repräsentativ für einen US-Wahlkampf gewesen. So haben sich bei Wahlkämpfen zum US-Kongress E-Mail und Suchfunktionen als die wichtigsten Instrumente erwiesen – selbst dann, wenn die Webseite der Kandidaten von hochprofessionellen Firmen wie Blue State Digital entwickelt wurden. Es habe sich gezeigt, dass Kanäle wie Facebook oder Youtube hauptsächlich von Wählern genutzt werden, die ohnehin schon aktive Unterstützer der Kampagne waren. Diese Kanäle spielten keine nennenswerte Rolle für die Mobilisierung. Hinzu komme, dass Online-Tools, die über EMail oder eine Suche hinausgehen, noch immer eher von den so genannten early adopters genutzt würden. Diese Gruppe nutzt technische Neuheiten schon in einem frühen und bisweilen nicht vollständig ausgereiften Stadium und hat eine vergleichsweise junge Altersstruktur. Das Gros der Unterstützer sei jedoch oft älter und nicht vertraut mit komplexen Online-Anwendungen. So ergebe sich, dass die Kommunikation per E-Mail ebenso wie Suchfunktionen, mit deren Hilfe online Informationen recherchiert werden können, die wichtigsten Bausteine des Online-Campaignings seien. Den Erfolg der Online-Kampagne Obamas sieht Nielsen vor allem in der intelligenten Verknüpfung von Online- und Offline-Aktionen. So könne man zur lokalen Versammlung per E-Mail einladen und die Ergebnisse hinterher auf demselben Kanal streuen – die Versammlung selbst sei aber durch kein Online-Tool ersetzbar. Einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit habe es nicht gegeben.
Untersucht wurden, parallel zur Präsidentschaftswahl, drei Kongress-Wahlkämpfe in den Jahren 2007/2008, vgl. auch Nielsen (2010).
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4 Am Horizont: der Multi-Milliarden-Dollar-Wahlkampf Als Ideengeber und Laboratorium für die politische Online-Kommunikation versteht sich das New Democratic Network (NDN), das von Simon Rosenberg gegründet wurde und heute geleitet wird. Der Think-Tank agiert unabhängig von der Demokratischen Partei, hat aber zum Ziel, progressive Kräfte unter den Demokraten davon zu überzeugen, dass es zu einer offensiven Online-Kommunikation keine Alternative gibt. Das Erfolgsgeheimnis der Obama-Kampagne beschreibt Rosenberg, der 1992 für Bill Clinton noch einen reinen Offline-Wahlkampf führte, als virtual participatory cycle: Über neue Medien und TV-Werbung werden Unterstützer generiert, die die Arbeit der Partei mit Spenden finanzieren. Dieser Ertrag wiederum wird intelligent in die Gewinnung neuer Unterstützer/Spender investiert. Mit diesem Schneeballprinzip konnten rund 4 Mio. Menschen für Online-Spenden gewonnen werden. Rosenberg hält es für möglich, dass in Zukunft auch 10–12 Mio. Bürger online spenden könnten und dass auf diese Weise Wahlkampfbudgets in Höhe von mehreren Milliarden Dollar entstehen. In der Kampagne Obamas erkennt Rosenberg einen neuen Typus von Wahlkampf: Statt den üblichen Spenden-Dinners, TV-Werbung und einem überschaubaren Wahlkampfteam im Hauptquartier der Partei würden nun Millionen von Unterstützern online und offline aktiv in den Wahlkampf einbezogen. Die republikanische Partei hinke hinsichtlich der gesamten Online-Aktivitäten und der Entwicklung von Dialog-Instrumenten deutlich hinter den Demokraten her und setze nach wie vor auf eine elitär wirkende Top-Down-Kommunikation. 5 Video – ein neues Format wird immer wichtiger Phil de Vellis arbeitet als Video-Producer für die Agentur Putnam Murphy Media. Hier war er an dem halbstündigen Obama-Spot beteiligt, der den Kern der finalen Wahlkampfphase bildete. Für de Vellis gibt es keine direktere und emotionalere Ansprache von Wählern als per Video. Nach wie vor entfalle der allergrößte Teil der Wahlkampfbudgets auf TV-Spots. Die Bedeutung von Web-Clips schätzt de Vellis zwiespältig ein. Einerseits könnten sich Spots im Internet rasend schnell viral verbreiten und zum perfect storm werden. Andererseits guckt sich der durchschnittliche User nicht mehr als ein bis zwei Clips am Tag an. Noch wichtiger: Erfahrungsgemäß taugen Clips wenig zur Mobilisierung von Anhängern bzw. Wählern. „Auch wenn ein Clip gefällt, macht man danach nicht ein paar Anrufe für Obama. Da ist es effektiver, per E-Mail zu den entsprechenden Telefonlisten zu verlinken“. Für die Praxis sei die Digitalisierung jedenfalls ein Segen. Filmbänder müssen nicht mehr aufwändig verschickt werden, der Link zum Server oder auf eine Videoplattform genügt. Einflussreiche Blogger und Journalisten können über einen privilegierten Zugang die Spots ein bis zwei Tage vor der Ausstrahlung sehen. Auch Online-Testgruppen sehen heute TV-Spots vorab und bewerteten diese. Die erfolgreich getesteten Spots werden dann landesweit im Fernsehen ausgestrahlt, die weniger erfolgreichen auf Youtube eingestellt. Bei den Demokraten sei es absoluter common sense, alle produzierten Videos online zu stellen. Angst vor mash ups, der satirischen Verfremdung von Clips, gebe es kaum noch.
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In der Republikanischen Partei stehe die grundsätzliche Debatte, inwieweit man die Kontrolle über Video-Inhalte durch ihre Veröffentlichung abgebe, hingegen noch aus. Insgesamt beschreibt de Vellis das Online-Video als einen Kommunikationskanal von vielen. In lokalen Wahlkämpfen würden sie in den USA derzeit wichtiger – auch ein mit wackelnder Handkamera gedrehter Clip könne mit Authentizität punkten. Interessant sei es zudem zu verfolgen, wie wichtig das Format Video auf mobilen Endgeräten werden wird. 6 Die Blogosphäre und die politische Sphäre Die US-amerikanische Blogosphäre kennt Jerome Armstrong als Protagonisten ebenso wie als Beobachter. Mit seinem 2001 begonnen Blog MyDD.de (Direct Democracy for People-Powered Politics) gehört Armstrong zu den etabliertesten und leidenschaftlichsten politischen Bloggern. Im Hauptberuf arbeitet der progressiv-liberale Provokateur als Politikberater und Kampagnenmanager. 2003 wurde er mit seinem damaligen Kompagnon Markos Moulitsas vom demokratischen Präsidentschaftsbewerber Howard Dean angeworben. Die Kampagne, mit der er John Kerry in den Primaries letztendlich unterlag, gilt als das Model T des Internet-Wahlkampfes. Erstmals wurden hier intensiv KampagnenWebsites, E-Mailings, Online-Werbung und Blogs eingesetzt. Und auch wenn der Wahlkampf selbst nicht erfolgreich war, so wurden doch viele Instrumente und Ideen erprobt und in die Demokratische Partei hineingetragen: Dean übernahm 2005 den Vorsitz der Partei und der furiose Erfolg der Demokraten in den Midterm Elections 2006, in denen die Partei die Mehrheit in beiden Häusern des Parlamentes gewann, führt Armstrong zu einem nicht unwesentlichen Teil darauf zurück, dass die Botschaft des Wahlkampfes konsequent durch die Kanäle der neuen Medien geschliffen wurde. Doch inzwischen habe die digitale Revolution ihre Kinder gefressen. Schon 2007/08 hätten die Mainstream-Journalisten begonnen zu bloggen und den Netzaktivisten ihr Terrain streitig gemacht. Schlimmer noch: Der überwiegende Teil der Blogosphäre habe weitgehend unreflektiert Obama umarmt und auf diese Weise seine kritische Stimme eingebüßt (Abb. 1). 7 Mehr Transparenz durch neue Medien Die Sunlight Foundation ist seit ihrer Gründung 2005 zu einem der wichtigsten Geldgeber für Transparenz-Organisationen in Washington geworden. Die Möglichkeiten neuer Medien inspirierten zu ihrer Gründung und so ist es denn auch vorrangiges Stiftungsziel, Markos Moulitsas bloggt selbst unter http://www.dailykos.com. [19.04.10] Der Claim der demokratischen Kampagne lautete: „Had enough?“ und bezog sich auf die damals seit sechs Jahren andauernde Regierungszeit von George W. Bush. Wie die jungen internetaffinen Demokraten neue Wege der politischen Kommunikation ausloten, beschreibt Jerome Armstrong in Armstrong u. Moulitsas (2006). Das Buch wurde zum Manifest der Digital Natives und Netroots.
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Abb. 1: Jerome Armstrong:
Politikberater, Blogger und Internet-Wahlkämpfer. (Quelle: eigene Aufnahme)
via Internet öffentlich zu machen, „woher das Geld am Capitol Hill kommt und wohin es geht“, wie es Gabriela Schneider, Communication Director der Stiftung, formuliert. Wenn Kandidaten, die Regierung oder der Kongress zur Veröffentlichung („disclosure“) von Daten per Gesetz verpflichtet sind, dann ist es der Anspruch der Sunlight Foundation, dass diese Daten online verfügbar, sortier- und durchsuchbar werden. Dabei besitzt die Stiftung kein eigenes Frontend, sondern unterstützt Projekte wie Open Secrets vom Center for Responsive Politics. Die Arbeit dieser Organisationen ist umso wichtiger, da Unternehmen und Verbände immer weniger direkt an Parteien und Kandidaten spenden, sondern Geldbeträge direkt an Lobbyfirmen zahlen, die in ihrem Sinne Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Es ist eine Form der Einflussnahme jenseits der offiziellen Parteienfinanzierung, die sehr viel schwieriger nachvollziehbar ist. Im Bereich Wahlkampffinanzierung stellt die Wahlkommission FEC (Federal Election Commission) Basis- und aggregierte Daten zur Verfügung, diese werden dann von Partnerprojekten der Stiftung weiter bearbeitet, sodass sie aussagekräftiger werden und auch Unstimmigkeiten aufgespürt werden können. Weniger vorbildlich sieht die Veröffentlichung der Daten aus, die die Geldströme in den Senat und das Repräsentantenhaus beschreiben. Mitunter liegen die Daten nur in gedruckter Form in einem bestimmten Senatsbüro vor und können nur dort eingesehen werden. Auch viele Datensätze des Repräsentantenhauses liegen zwar digital vor, sind aber nur sehr schwer weiterverarbeitbar. Die Sunlight Foundation investiert über Projekte wie Open Secrets jährlich einen sechsstelligen Betrag, um diese Daten zu digitalisieren und zu aggregieren, wie Sheila Krumholz, Executive Director des Center for Responsive Politics, weiß. Und so kann Open Secrets nicht nur darüber informieren, dass auch im „Krisenjahr 2009“ so viel Geld wie nie zuvor, nämlich 3,46 Mrd. US$ an Lobbygruppen und -firmen geflossen ist – etwa doppelt so viel wie noch 2001. Auch welche Umsätze vgl. Open Secrets. Lobbying Database. Verfügbar unter http://www.opensecrets.org/lobby/ index.php [14.04.10]
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Abb. 2: Capitol Hill. (Quelle: eigene Aufnahme)
einzelne Lobbyfirmen erreichen oder welche Unternehmen welche Summen investieren, erfährt man hier. Die Daten sind im Sinne des Open-Data-Prinzips frei herunterladbar. Da Einflussnahme nicht nur über Geldströme, sondern auch über personelle Verquickungen stattfindet, beleuchtet das Projekt Revolving Door (deutsch: Drehtür) zusätzlich, welche leitenden Beamten und Mandatsträger ihren Weg in welche Lobbyfirma fanden und welche „Einflüsterer“ selbst eine politische Karriere begannen (Abb. 2). Aber auch für die Antipoden der Transparenz-Bewegung, die großen Lobby-Firmen, spielen neue Medien eine immer wichtigere Rolle. Michelle C. Tessier und Andrew Kauders sind beide Principals der Podesta Group, die Kunden wie Google oder Boeing vertritt. Sie nutzen Kampagnen-Websites, Newsletter, Facebook, Twitter und E-Mail in der täglichen Arbeit. E-Mail sei durch die verschärften Sicherheitsbestimmungen am Capitol zum wichtigsten Kommunikationsmittel geworden. Schließlich bräuchte die Zustellung von Briefpost nach den Anthrax-Anschlägen auf politische Institutionen im Jahr 2001 oft länger als eine Woche. Auch seien für die professionellen Lobby-Strategen die Trackback-Funktionen der E-Mails interessant. So könne zurückverfolgt werden, welche Nachricht geöffnet und welche Links angeklickt wurden. Wichtiger werde die Ansprache von Bloggern als Meinungsführer. An die Krisen-PR stellen Online-Medien neue Herausforderungen. So verbreitete sich 2009 über Youtube in rasanter Geschwindigkeit ein Clip, der Mitarbeiter der Pizzakette Dominos zeigt, wie sie auf unappetitliche Weise eine Pizza verunreinigten. Das Unternehmen reagierte sofort und meldete online, welche Schritte zur Klärung des Sachverhalts unternommen wurden. Sie informierten über die Festnahme der beiden Mitarbeiter. Zusätzlich wurde das Auffinden des Videoclips dadurch erschwert, dass Clips mit ähnlich lautenden Titeln, aber unverfänglichem Inhalt online gestellt wurden.
vgl. Open Secrets. Revolving Door. Verfügbar unter http://www.opensecrets.org/revolving/ index.php [14.04.10]
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8 Fazit Die aufsehenerregende Online-Kampagne von Barack Obama profitierte vom role model der Bewerbung Howard Deans für das demokratische Kandidatenamt in den Jahren 2003/04. Hier wurden erstmals konsequent neue Medien eingesetzt und mit geringen Budgets eine große Anzahl Unterstützer mobilisiert. Viele Mitarbeiter des Wahlkampfstabs sind heute an Schlüsselpositionen der politischen Kommunikation tätig. So beeindruckend der Internet-Wahlkampf Obamas war: Er ist nicht repräsentativ für heutige Wahlkämpfe in den USA und war nur in Verbindung mit einer tragenden Botschaft und der effektiven Verknüpfung von Online- und Offline-Aktionen erfolgreich. Die Koordination von Millionen von Unterstützern durch die Software Partybuilder hat sich als wichtiges Instrument erwiesen. Eine zentrale Rolle spielten die basalen Tools wie E-Mail und Suchfunktion. Soziale Netzwerke haben offenbar eine geringe Wirkung in Bezug auf die Mobilisierung von Unterstützern. Das Erfolgsrezept des Präsidentschaftswahlkampfes setzt die Demokratische Partei mit der Plattform Organizing for America fort. Sie dient der Unterstützung der Agenda des Präsidenten. Parallel dazu nutzen NGOs auf kreative Weise neue Medien, um für mehr Transparenz im politischen Prozess zu sorgen. Sie machen wichtiges Material zu Wahlkampffinanzierung, dem Einfluss von Lobbyisten und personellen Verquickungen im Internet zugänglich. Neue Medien haben in US-Wahlkämpfen für keine Revolution gesorgt, wie es manch einem scheinen mag, jedoch vieles verändert. Literatur Armstrong, J., & Moulitsas, M. (2006). Crashing the Gate. White River Junction: Chelsea Green Publishing Company. Federal Election Commission. (2010). Candidate (P80003338) Summary Reports – 2007–2008 Cycle. http://query.nictusa.com/cgi-bin/cancomsrs/?_08+P80003338. Zugegriffen: 10. Apr. 2010. Nielsen, R. K. (2010). Digital Politics as Usual. In M. Joyce (Hrsg.), Digital Activism Decoded. Washington: Idebate Press. Vargas, J. A. (2008). Obama Raised Half a Billion Dollar. Washington Post vom 20.11.2008. http:// voices.washingtonpost.com/44/2008/11/20/obama_raised_half_a_billion_on.html. Zugegriffen: 15. Dez. 2009.
Interviews (chronologisch) Rasmus Kleis Nielsen, Researcher, Columbia University, New York, 28. Mai 2009 Sheila Krumholz, Executive Director, Center for Responsive Politics, Washington D.C., 1. Juni 2009 Thomas Gensemer, Managing Partner, Blue State Digital, Washington D.C., 1. Juni 2009 Simon Rosenberg, Founder, New Democratic Network, Washington D.C., 2. Juni 2009 Gabriela Schneider, Communication Director, Washington D.C., 3. Juni 2009 Michelle C. Tessier/Andrew Kauders, Principals, Podesta Group, Washington D.C., 3. Juni 2009
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Jeremy Bird, Deputy Executive Director, Organizing for America, Washington D.C., 3. Juni 2009 Jerome Armstrong, Blogger, MyDD.com, Washington D.C., 4. Juni 2009 Philip De Vellis, VP of New Media, Murphy Putnam Media, Washington D.C., 5. Juni 2009 Dipl.-Pol. Henrik Flor ist als Content- und Community-Manager für die Berliner Stiftung Bürgermut tätig, die Kommunikationsund Vernetzungsprojekte im Bereich bürgerschaftliches Engagement initiiert. Als Mitglied des Netzdemokraten e. V. entwickelt er neue Partizipationsmodelle an der Schnittstelle von Politik und neuen Medien. Seine Recherchereise in die USA zum Thema Online-Campaigning dokumentiert das Blog http://digitalmatters. wordpress.com/.